Günther Jikeli: Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland und Europa

In Deutschland leben etwa 5,5 Millionen Muslime, davon mehr als eine Million Menschen, die in den letzten Jahren aus Krisengebieten wie Syrien, dem Irak und Afghanistan geflohen sind1 Die meisten Muslime in Deutschland stammen aber aus der Türkei und sind seit Jahrzehnten hier oder in Deutschland geboren. Damit sind insgesamt etwa sieben Prozent der Bevölkerung in Deutschland Muslime. Bedingt durch die Einwanderungsgeschichte ist der Anteil in einigen Regionen, Städten und Stadtteilen wesentlich höher als in anderen. Auch wenn viele Muslime nicht streng religiös sind und die Religion im Alltag meist nicht an erster Stelle steht, bezeichnen sich die allermeisten als religiös und mehr als 40 Prozent als sehr religiös, insbesondere in der jüngeren Generation.2 Die ethnischen, kulturellen und sozialen Hintergründe und auch die Religionsauffassungen können aber ganz unterschiedlich sein.
Beschäftigt man sich in Deutschland mit Antisemitismus, denkt man aufgrund der nationalsozialistischen Verbrechen und der noch immer in der Bevölkerung anzutreffenden christlich-antijüdischen Stereotype nicht zuerst an muslimische Judenfeindschaft. Tatsächlich ist der Antisemitismus unter Muslimen nur ein Teil des aktuellen Problems, wie auch dieser Band deutlich zeigt. Doch seit dem Wiederanstieg von antisemitischen Vorfällen seit Beginn des 21. Jahrhunderts konnte in Deutschland, und mehr noch in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien beobachtet werden, dass eine wachsende Zahl der Täter Muslime sind. Djihadisten ermorden Juden sogar explizit im Namen des Islams. Das scheint zunächst verwunderlich, denn Muslime, die erst Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg nach Deutschland und Europa kamen, sind kaum vom jahrhundertealten christlichen Antisemitismus geprägt. Auch Verstrickungen der Großeltern in Verbrechen der Nationalsozialisten und der eventuell in Familien tradierte nationalsozialistische Judenhass können nicht als Erklärung für Antisemitismus unter Muslimen herhalten.
Dieses Kapitel stellt die Ergebnisse von jüngeren Umfragen, Statistiken und von soziologischen wie historischen Studien zu Antisemitismus unter Muslimen vor. Ein Blick über den deutschen Tellerrand hinaus und ein internationaler Vergleich können helfen, das Phänomen besser zu verstehen. Dabei zeigt sich, dass Antisemitismus heute unter Muslimen wesentlich stärker verbreitet ist als in der Gesamtbevölkerung und dass es einen spezifisch muslimischen Antisemitismus gibt. Die Ursachen für muslimischen Antisemitismus sind vielfältig. Sie sind aber weder in der tatsächlich vorhandenen Diskriminierung von Muslimen noch im Nahostkonflikt zu finden, wie oft angenommen wird. Sie sind vielmehr in historischen, soziologischen und psychologischen Entwicklungen zu suchen, die ein Selbstbild von einer kollektiven Identität formen, das Feindschaft gegen Juden impliziert. Das wiederum heißt selbstverständlich nicht, dass alle Muslime Antisemiten sind, wie zahlreiche Muslime beweisen, die sich explizit gegen Antisemitismus aussprechen.3 […]

Beitrag erschienen in: Olaf Glöckner, Günther Jikeli (Hrsg.): Das neue Unbehagen – Antisemitismus in Deutschland heute. OLMS, 2019.

Kompletter Beitrag (PDF)
  1. Pressemitteilung des Bundesministerium des Innern vom 6. 1. 2016, http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/01/asylantraege-dezember-2015.html (12. 8. 2018). 

  2. Bertelsmann Stiftung: Religionsmonitor 2008. Muslimische Religiosität in Deutschland. Überblick zu religiösen Einstellungen und Praktiken. Gütersloh 2008. Im Vergleich zu der sunnitischen Mehrheit der türkischstämmigen Muslime ist die Religiosität unter den aus der Türkei stammenden Aleviten deutlich geringer. Eine hohe Religiosität unter Muslimen lässt sich auch in anderen Ländern feststellen. Gallup: The Gallup Coexist Index 2009: A Global Study of Interfaith Relations. With an in-depth analysis of Muslim integration in France, Germany, and the United Kingdom. Washington D. C. 2009, S. 19; Tillie, Jean [u. a.]: EURISLAM. Finding a Place for Islam in Europe. Cultural Interactions between Muslim Immigrants and Receiving Societies. Final report EURISLAM 2012; Beauchemin, Cris u. Christelle Hamelle, Patrick Simon: Trajectories and Origins. Survey on Population Diversity in France. Initial findings. Paris: Institut national d’études démographique 2010 (Documents de Travail 168), S. 126. 

  3. Wiederholt haben sich beispielsweise Didier Bourg in Frankreich, Siavosh Derakhti in Schweden, Mehdi Hasan in Großbritannien und in Deutschland Ahmad Mansour, Muhammad Sameer Murtaza, Özcan Mutlu und Cem Özdemir in der Öffentlichkeit gegen Antisemitismus auch und explizit unter Muslimen ausgesprochen.